Istanbul. Türkische Zitterpartie: Die Wiederwahl von Präsident Erdogan steht auf der Kippe. Voraussichtlich muss der Staatschef in die Stichwahl.

  • Bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei hat keiner der Kandidaten im ersten Anlauf eine Mehrheit von 50 Prozent erreicht
  • Nach Auszählung eines Großteils der Stimmen zeichnet sich nun eine Stichwahl ab
  • Amtsinhaber Erdogan gab sich dennoch siegesgewiss

Bei der Präsidentenwahl in der Türkei zeichnet sich eine Stichwahl ab. Zwar führte Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan in der Nacht zu Montag nach Auszählung von rund 95 Prozent der abgegebenen Stimmen im Inland und rund 37 Prozent der Stimmen im Ausland mit rund 49,49 Prozent. Dies teilte der Chef der Wahlbehörde, Ahmet Yener, in Ankara mit (Stand: 3 Uhr MESZ). Der aussichtsreichste Herausforderer, Kemal Kilicdaroglu, lag bei 44,9 Prozent. Bleibt es beim Trend und bekommt keiner der drei Kandidaten mehr als 50 Prozent der Stimmen, geht es jedoch für die beiden führenden Bewerber am 28. Mai in eine Stichwahl.

Erdogan kündigte an, eine mögliche Stichwahl anzunehmen. „Wir wissen noch nicht, ob die Wahl in der ersten Runde zu Ende sein wird, aber wenn die Menschen uns in eine zweite Runde schicken, werden wir das auch respektieren“, sagte Erdogan in der Nacht zu Montag vor Anhängern in Ankara. Erdogan behauptete, er habe eine „klare Führung“ gegenüber Kilicdaroglu. „Wir respektieren die Wahl und wir werden die nächste Wahl respektieren“, sagte er mit Blick auf eine mögliche Stichwahl in zwei Wochen.

Wahl in der Türkei: Opposition äußert Zweifel an Auszählungsergebnis

Oppositionspolitiker wie Ankaras Bürgermeister Mansur Yavas gaben sich dennoch siegesgewiss. Sie sahen den eigenen Kandidaten Kilicdaroglu vorn, warfen der Regierung "Manipulationen“ bei der Stimmenauszählung vor und äußerten Zweifel an den Auszählungsergebnissen, die von der Staatsagentur Anadolu und dem staatlichen Fernsehen TRT verbreitet wurden. Lesen Sie dazu: Türkei-Wahl: Videos im Netz zeigen angeblich Manipulationen

Letzte Meinungsumfragen vor der Wahl ließen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem islamisch-konservativen Erdogan und Kilicdaroglu erwarten. Der 74-jährige Kilicdaroglu ist Vorsitzender der Mitte-Links-Partei CHP und trat als gemeinsamer Kandidat von sechs Oppositionsparteien als Präsidentschaftskandidat an. Mit Kilicdaroglu hatten sich die wichtigsten türkischen Oppositionsparteien erstmals auf einen gemeinsamen Herausforderer für Erdogan geeinigt.

Kemal Kilicdaroglu winkt seinen Anhängern nach der Stimmabgabe in Ankara.
Kemal Kilicdaroglu winkt seinen Anhängern nach der Stimmabgabe in Ankara. © Uncredited/AP/dpa

Wahl in Türkei: Warum sie so wichtig ist

Beobachter sehen in der Wahl die vielleicht wichtigste Richtungsentscheidung der Türkei seit Gründung der Republik vor 100 Jahren. Der 69-jährige Erdogan hat in den vergangenen Jahren das Land immer autoritärer regiert. Unter dem 2018 eingeführten Präsidialsystem konzentrierte er als Staatsoberhaupt, Regierungschef und Parteivorsitzender in Personalunion fast die gesamte Macht bei sich. Er konnte weitgehend am Parlament vorbeiregieren. Zur Präsidenten- und Parlamentswahl trat Erdogan mit der „Volksallianz“ an. Ihr gehören neben seiner islamisch-konservativen AKP die neofaschistische MHP und weitere ultra-rechte sowie islamistische Splitterparteien an.

Oppositionskandidat Kilicdaroglu wollte im Fall seines Sieges das Präsidialsystem wieder abschaffen und zur parlamentarischen Demokratie zurückkehren, die Unabhängigkeit der Justiz und der Zentralbank wiederherstellen, die Einschränkungen der Meinungsfreiheit rückgängig machen und die Gewaltenteilung stärken. Kilicdaroglu wollte auch die unter Erdogan schwer beschädigten Beziehungen zum Westen reparieren und die eingefrorenen EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei wiederbeleben.

Auch bei der gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahl zeichnete sich nach den ersten Teilergebnissen ein neuerlicher Sieg der Erdogan-Regierungspartei AKP ab. Bisher kontrollierten die AKP und ihre Verbündeten 335 der 600 Sitze in der Nationalversammlung. Entscheidend für die Mehrheitsverhältnisse im neuen Parlament könnten die Stimmen der pro-kurdischen HDP sein.

Erdogan hetzte im Wahlkampf gegen schwule, lesbische und queere Menschen

Hat durch eine Verfassungsänderung seit fünf Jahren weitreichende Vollmachten: Recep Tayyip Erdogan.
Hat durch eine Verfassungsänderung seit fünf Jahren weitreichende Vollmachten: Recep Tayyip Erdogan. © Francisco Seco/AP/dpa

Erdogan spürte erstmals seit seiner Wahl zum Ministerpräsidenten 2003 kräftigen Gegenwind. Die Inflation erreichte im vergangenen Herbst mehr als 83 Prozent und liegt offiziell derzeit bei 44 Prozent. Die Zahlen gelten aber als geschönt. Regierungsunabhängige Ökonomen beziffern die tatsächliche Teuerung auf 105 Prozent. Auch die schwere Erdbebenkatastrophe von Anfang Februar, bei der mindestens 51.000 Menschen starben, dürfte Erdogan Stimmen kosten. Der eng mit der Bauindustrie verbandelte Staatschef hatte in den Jahren zuvor mehrfach Schwarzbauten mit Amnestien nachträglich legalisiert. Viele dieser Gebäude stürzten jetzt ein.

WahlTürkei-Wahl 2023
(Stichwahl)
DatumSonntag (28. Mai 2023)
OrtTürkei
Gewählt wirdPräsident
Wahlberechtigt sindRund 64 Millionen Menschen
Kandidaten für PräsidentenamtRecep Tayyip Erdoğan (69) und Kemal Kılıçdaroğlu (74)

Der Wahlkampf war stark polarisiert, von Gewalt und Hassparolen überschattet. Im osttürkischen Erzurum, einer Erdogan-Hochburg, wurde ein beliebter Oppositionspolitiker mit Steinwürfen angegriffen. Mehrere Menschen wurden verletzt. Unbekannte Täter gaben Schüsse auf Büros der Oppositionsparteien ab. Erdogan hetzte im Wahlkampf gegen schwule, lesbische und queere Menschen, denen er nach der Wahl „eine Lehre erteilen“ werde.

Der MHP-Vorsitzende Devlet Bahceli droht Oppositionspolitikern, sie erwarteten nach der Wahl „lebenslange Haftstrafen oder Kugeln in ihren Körpern“. Innenminister Süleyman Soylu verglich die Wahl mit einem „Putschversuch des Westens“. Das weckte die Befürchtung, Erdogan werde eine Niederlage nicht hinnehmen und die Macht nicht abgeben. Am Freitagabend versicherte Erdogan jedoch in einem TV-Interview, er werde „jedes Wahlergebnis als legitim anerkennen“ und „tun, was die Demokratie erfordert“. Das könnte Sie auch interessieren: Wahlen in der Türkei: Warum Erdogan die Ablösung droht